Montag, 21. November 2011

Lia - Eine Kurzgeschichte

Diese Kurzgeschichte ist schon etwas älter. Geschrieben hab ich sie 2006 zu Weihnachten. Im Rahmen der Schulweihnachtsfeier habe ich sie auch vorgelesen.
2008, als ich gerade in Canada war habe ich diese Geschichte dann ins Englische übersetzt und an die Schülerzeitung dort geschickt. Wurde aber nie veröffentlicht. ;)
Hier jetzt also die originale, deutsche Version.
-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Lia

Es ist Anfang Dezember – Adventszeit. Die Stadt ist geschmückt, in den Fenstern leuchten bunte Sterne, Weihnachtsmänner hängen an den Häuserwänden. Der Weihnachtsmarkt ist in der Stadt und Menschen eilen von Stand zu Stand um noch etwas ganz Wichtiges zu besorgen. Die Luft ist erfüllt von der Weihnachtsstimmung. Glocken klingen durch die Nacht und der Duft von Zimtsternen lässt viele Leute anhalten und genießerisch den Geruch einatmen. Ja, bald würde Weihnachten sein. Auch Lia ist in der Stadt. Sie sitzt auf einer Bank in einer kleinen, verlassenen Grünanlage. Es ist kalt, das Mädchen friert. Sie zieht ihren  Mantel fester um sich. Sie ist ganz still und starrt ins Nichts. Woran sie denkt? Vielleicht an vergangenen Zeiten. Dann schüttelt sie den Kopf und steht auf.
Sie geht zum Weihnachtsmarkt, dort ist es wärmer. Schon von weitem sieht sie die vielen Menschen und alle Düfte steigen ihr verführerisch in die Nase. Sie schlüpft zwischen den Menschen hindurch, klein, grau, unbemerkt. Ihr Blick ist am Boden, sie wird übersehen. Wer achtet schon auf ein kleines Mädchen?
Hier und da stibitzt sie ein Stück Waffel, nippt an stehen gelassenen Glühweinbechern. Jetzt ist ihr nicht mehr kalt, das Getränk wärmt sie. Lia schlängelt sich weiter, doch dann hört die Menschenmasse plötzlich auf. Erstaunt sieht sie auf. Das Mädchen hatte nicht auf ihre Umgebung geachtet. Jetzt steht sie vor einer Bühne. Ein Mann steht darauf und hält eine Rede. Lia will gerade wieder untertauchen, da schnappt sie die Worte des Mannes auf:
„Es gibt ihn, den guten Hirten, er ist immer bei uns“ 
Lia hält in der Bewegung inne um zu zuhören. Da gibt es wen, der immer bei ihr ist? Darüber will sie mehr wissen. Aber der Mann erzählt weiter:
„Sein Reich ist unendlich und ewig. Der Herr selbst ist gütig und auf aller Wohl bedacht. Alle Menschen, die von uns gehen, kommen in sein Reich und alle werden in Ewigkeit geeint sein und in Frieden leben. Das irdische Leben ist ein Nichts gegen das Reich des Allmächtigen!“
Das kann Lia nicht so ganz glauben. Sie erinnert sich, ihre Eltern haben ihr von „Gott“ erzählt. Aber Lia glaubt nicht an Gott. Nicht an den  „Vater im Himmel“, der über uns steht und herrscht in alle Ewigkeit. Der uns geschaffen hat und alle liebt. All das haben ihre Eltern gesagt. Doch dann waren sie tot. Abgestürzt auf dem Weg nach Hause. Dort, wo sie ihrem Schöpfer am nächsten waren. Kein Gott hat es verhindert.
Nein, Lia kann nicht an Gott glauben. Zu schmerzlich ist die Erinnerung an den Verlust. Das Mädchen dreht sich um und geht. Sie verlässt das bunte Treiben auf dem Marktlatz und tritt ins Dunkel. Sie sucht einen Schlafplatz. In einem Hinterhof findet sie einen ausrangierten Sessel und schläft darin ein…
Die nächsten Tage sind ereignislos. Lia kann alles besorgen, was sie zum Leben braucht, eine nette Dame schenkt ihr sogar Schokolade. Aber die Rede des Mannes kann sie nicht vergessen.
Und dann findet sie einen Stein. Es ist ein schöner Stein, silber-grau und in Form eines Flügels. Lia steckt den Stein ein. Er soll ihr Glück bringen. Sie läuft durch die Stadt, eine Hand umschließt fest den Stein in ihrer Manteltasche. Er wärmt sie und gibt ihr Kraft. Es hat geschneit und für Lia ist es noch schwerer einen Platz zum Schlafen zu finden als sonst. Spät am Abend entdeckt sie eine leer stehende Garage. Sie geht hinein und legt sich an die Rückwand. Hier kann ihr der draußen wirbelnde Schnee nichts anhaben. Matt leuchtet eine Straßenlaterne von draußen in die Garage. Lia holt den  Stein aus der Tasche und betrachtet ihn genauer. Plötzlich meint sie, leise wispernde Stimmen zu hören. Angestrengt lauscht sie. „Ich beschütze dich, ich werde dich leiten und dir helfen. Wenn du auch mich schützt.“ Die Stimme verstummt und das Mädchen fragt sich verwirrt, wer da gesprochen hat. Der Stein? Und schon klingt die Antwort aus dem Nichts: „Die Antwort liegt tief in deiner Seele. Finden musst du die Wahrheit aber selber.“ Lange rührt sich Lia nicht. Sie ist verwirrt und denkt nach. Doch dann schläft sie irgendwann ein.
Sie hat einen wirren Traum. Sie läuft durch einen dichten Nebel. Dann fühlt sie einen Sog, etwas scheint sie zu fassen und zu leiten. Sie kann nichts sehen und tappt blind durch die Gegend, aber dann klart es auf und Lia erkennt wo sie ist: Auf einer Frühlingswiese, Schafe grasen auf ihr und sie erkennt in der Ferne auch einen Schäfer und seinen Hund. Es ist ein friedliches Bild.
Dann wacht Lia auf. Ihr Kopf tut weh und sie verspürt den Drang zu laufen. Rasch steht sie auf, tastet  in dem Mantel nach dem Stein und marschiert los. Sie läuft den ganzen Tag, ohne Ziel irrt sie durch die Gassen und Straßen der Stadt. So vertraut sind sie, dass Lia nicht nachdenken muss. Einfach laufen. Aber ihr Kopf wird nicht frei. Wirre Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Ihr Stein liegt in ihrer Tasche. Nicht schwer, nicht  leicht, einfach da.
Abends kehrt sie zu der Garage zurück. Es ist ein guter Ort zum schlafen, geschützt vor dem Wetter und abgelegen von Wohnungen, keiner würde sie finden.
In dieser Nacht schläft Lia gut. Auch die nächsten Tage und Nächte geschieht nichts Merkwürdiges. Erst in der Nacht zum 24. hat sie wieder einen Traum.  Er ist fast identisch mit dem anderen. Sie läuft wieder geführt von etwas durch den Nebel und wieder gelangt sie am Ende zu der schönen Wiese. Und plötzlich hat Lia das Gefühl, dort die Antwort auf ihre Fragen zu finden. Mitten in der Nacht steht sie auf und läuft los.
Sie weiß zwar nicht, in welcher Richtung die Wiese zu finden ist, aber sie vertraut ihrem Gefühl. Sie drückt den Stein in ihrer Tasche fest und dann betritt sie den unbekannten Weg außerhalb der Stadt. Dort ist sie noch nie gewesen. Das Mädchen versucht sich zu erinnern, an Details aus ihrem Traum. Wie sah der Weg aus. Aber sie weiß fast nichts mehr. Plötzlich überkommt Lia dieses Gefühl, dass da wer ist. Es ist wie ein Sog. Lia weiß jetzt, dass sie richtig ist, es ist ihre unsichtbare Führerin, sie wird Lia den Weg zeigen. Tatsächlich öffnet sich bald der undurchsichtige Vorhang aus Dunst und sie sieht die Wiese. Die Schafe grasen dort, genau wie in ihrem Traum. Und dort hinten steht der Schäfer. Er lächelt ihr entgegen.  Jetzt ist Lia verunsichert. Sie erinnert sich an die letzten Wochen. Ja, das hier ist die Wahrheit, die sie finden sollte. Es gibt einen Ort voll Geborgenheit und Liebe und jemanden, der immer auf einen aufpasst. Lia ist endlich dort angekommen, wo sie hingehört…